Samstag, 21. Februar 2015

Jenseits der Angst, Teil 3: Von Erdbebentänzen und Tiefseetauchen in tiefen, tiefen Abgründen

Der Sand ist einverstanden, deine Spuren zu tragen...

Als ich noch ziemlich jung war, ist mir mal aufgefallen, dass die meisten Menschen ein „vermeidendes“ Leben leben. Soll heißen: Die meisten Menschen leben so, dass sie bestimmte als negativ angesehene Sachen vermeiden, zum Beispiel Schmerz. Sie versuchen also, ihr Glück zu finden, indem sie es vermeiden, zu fallen, abzustürzen, zu tief in irgendwelche Schmerzabgründe zu schauen.
Heute finde ich das natürlich auch sehr verständlich, aber damals war ich ja noch jung und dachte mir insgeheim: „Ziemlich komisch, was ihr da macht... Zu glauben, dass das „Vermeiden“ von irgendwas einen glücklich machen könnte.“ Jung und radikal wie ich war, war ich eher fürs Bejahen und auch fürs radikale Bejahen. Ich dachte mir: „Eigentlich lebe ich doch nur richtig, wenn ich das Leben absolut bejahe und wirklich alles von ihm... auch den Schmerz, den es mir bringt, auch die Katastrophen usw.“
Wenn ich das Leben wirklich liebe, wirklich gerne lebe, wirklich mit Hingabe lebe, dann liebe ich doch auch seine dunklen Seiten? Dann will ich die doch auch sehen und spüren und erfahren und verstehen? Dann will ich doch auch die Regentage kennenlernen und nicht immer nur in der Sommersonne stehen? Dann habe ich keine Angst, mich dem Leben wirklich auszusetzen. Mich von ihm auch erschüttern und verletzen zu lassen.
Also habe ich dann mit 13 voller Überzeugung verkündet, dass ich ein Leben will, das auch tragisch ist. Meine Familie hat sich wahrscheinlich gefragt: „Oh Gott, was ist nur schief gelaufen mit dem Kind???“ Und viele andere Menschen, denen ich seither begegnet bin, meinten ebenfalls, dass sie meine Einstellung irgendwie gefährlich fänden, sehr radikal...
Und radikal ist sie natürlich auch wirklich oder zumindest einigermaßen kompromisslos. Gleichzeitig hungern wir aber alle danach, genauso geliebt zu werden, kompromisslos, bedingungslos. Jeder von uns wünscht sich, dass er seine dunkle Regentagseite in seiner Beziehung nicht verstecken und unterdrücken muss, sondern dass sie da sein darf, dass sie gesehen wird und vielleicht eben sogar als etwas Schönes. Manchmal denke ich wirklich: So, wie wir das Leben lieben, so leben wir auch die Menschen in unserem Leben.
Will ich also die Begegnung mit deinen dunklen Seiten vermeiden oder setze ich mich dir kompromisslos aus? Bin ich wirklich bereit, mich von dir erschüttern und durch rütteln und verändern zu lassen? Kann ich Hingabe leben? Bin ich mutig genug, um mit dem Erdbeben zu tanzen, in das sich das Leben und jede Beziehung einfach notwendiger Weise ab und an verwandelt?
Eine lebendige Beziehung kommt meiner Meinung nach auch wirklich nicht ohne größere Erdbeben aus. Eben weil „Nähe“ einfach immer auch heißt „Nähe zu deinen dunklen Seiten“. Wir haben alle unsere Abgründe. Und wenn ich einem anderen Menschen wirklich, wirklich nahe sein will, dann bin ich natürlich auch seinen Abgründen nah und ebenso meinen eigenen. Je näher mir jemand ist, desto besser versteht er es, mich in meine eigenen Abgründe zu schmeißen und in seine zu ziehen.
Und beim „Vermeiden“ dieser Abgründe geht aber irgendwann früher oder später einfach die Nähe verloren. Genau wie im Leben: je vermeidender ich lebe, desto weniger lebendig fühle ich mich irgendwann, desto weniger lebe ich. Alles, was ich durch Vermeidung anhäufe, ist im Grunde Angst. Durch Hingabe hingegen... klar, da häufe ich durchaus auch Schmerz an, wenn ich mich bewusst dazu entscheide, mich erschüttern zu lassen, mich auszusetzen. Aber ich bleibe nah und ich bleibe lebendig. Und Schmerz ist ja auch eigentlich nichts Schlechtes.
Zumindest habe ich das für mich inzwischen wirklich erkannt, dass ich dem Schmerz in meinem Leben so, so viel verdanke. Der Wunsch nach einem auch tragischen Leben war also gar nicht so dumm ;-)
Schmerz hat uns so viel zu sagen, weil es eben einfach auch immer unser Schmerz ist. Schmerz ist wie ein reinigendes Feuer: Wenn ich ihm zuhöre, ihn anschaue, ihn in meinem Leben erlaube, dann heilt er mich eigentlich. Er bringt mich voran, er kurbelt mein persönliches Wachstum an. Er zeigt mir, wo die Ängste und Blockaden sind, die ich noch überwinden könnte. Wenn ich ihn aussperre, vermeide, dann bewirke ich nur, dass ich mich immer mehr vor ihm fürchte... und am Ende holt er mich ja doch auch irgendwann wieder ein. Und Angst ist im Grunde einfach zerstörerischer als Schmerz, weil Angst lähmt und einfriert. Schmerz kann brennen, aber er bewegt auch, transformiert und verändert und heilt eben im Endeffekt sogar.
Ich kann auf jeden Fall nicht behaupten, dass ich meine kompromisslos-radikale-Hingabe-Einstellung bereue. Ich habe mich vielen Erfahrungen ausgesetzt, von denen wahrscheinlich einige auf den ersten Blick wirklich so aussehen, als könnte man darauf verzichten. Da waren Gewalterfahrungen dabei, fette Familienkrisen, ein paar ordentliche Abstürze... Aber im Rückblick habe ich absolut kein Empfinden von: Das hätte ich mir doch ersparen können. Oder: Darauf hätte ich wirklich verzichten können. Hätte ich nicht. Ich will auf gar keinen Fall auf irgendetwas davon verzichten, ich möchte nichts ungeschehen machen, im Gegenteil: Ich bin dankbar dafür und im Frieden damit und all diese Erfahrungen haben mich extrem bereichert, mich tiefer gemacht, mutiger, sie haben vieles in mir angestoßen und befreit und transformiert und geheilt.
Wenn ich vor den Abgründen wegrenne, dann nehme ich die Angst vor ihnen aber überallhin mit. Wenn ich mich ihnen stattdessen hingebe, ihnen aussetze, kann ich im Optimalfall lernen, in ihnen zu schwimmen, und verliere einfach die Angst vor ihnen. Und auch wenn das nicht nach dem leichteren Weg aussieht und auch kein leichter Weg ist, ist es im Endresultat der Weg, der einfach dahin führt, dass ich glücklicher, sicherer und aber immer noch nah und lebendig bin in meiner Beziehung zu einem Menschen oder zum Leben selber.
Den Erdbeben und Erschütterungen kann ich auf Dauer sowieso nicht entgehen, aber was ich schon lernen kann, ist mit ihnen zu tanzen. Und um zu tanzen, braucht man aber immer auch Mut. Jemand, der Angst hat, zu fallen oder zu stolpern, der tanzt entweder nicht frei oder sogar eher noch gar nicht. Und diese Sicherheit und tänzerische Leichtigkeit im Umgang mit Abgründen und Erdbeben, die kann man sich aber mit der Zeit wirklich erarbeiten.
Das heißt jetzt nicht, dass jeder, der noch keine Gewalterfahrung in seinem Leben gemacht hat, jetzt schnell mal nach einer suchen soll, damit er genug Abgründe kennen lernt... Irgendwo finden die Abgründe sowieso zu uns und ihr könnt getrost darauf vertrauen, dass der Abgrund, der euch gerade verfolgt, einfach auch der ist, der auf irgendeine Art für euch bestimmt ist. Er ist quasi das Schwimmbecken, in dem ihr jetzt Tiefseetauchen lernen sollt, oder das Erdbeben, das euch Tango beibringen will (das Leben ist nämlich wirklich ein genialer Tanzlehrer).
Und vielleicht ist der Abgrund, der euch gerade verfolgt, die vielen Konflikte und Streitereien in irgendeiner eurer Beziehungen oder im Gegenteil das Schweigen oder die Eintönigkeit darin. Und beides kann schon ein ziemlich tiefer Abgrund sein. Meine Erdbebentänze sind momentan auch eher noch Stolpertänze, aber von meinen größeren Stolperern, Ausrutschern und Stürzen weiß ich, dass das Schlimmste, was mir passieren kann, ist, dass ich in mich falle. Kein Fall, egal in welchen noch so tiefen und dunklen Abgrund, hat mich je woanders landen lassen als bei mir selbst. Und meistens sogar mehr bei mir selbst als davor.
So don't worry, folks :-) And dance!
Der Sand ist einverstanden, deine Spuren zu tragen... Heißt für mich also: Ich bin einverstanden, mich von dir erschüttern, von dir verändern, von dir bewegen, in deine und meine und unsere Abgründe schmeißen zu lassen. Und mein Vertrauen in dich, in uns, ins Leben hört nicht auf, wenn du mich mal verletzt. Ich werde dahin kommen, dass ich den Schmerz, den du mir zugefügt hast, irgendwann ansehen und verstehen und lieben und dankbar dafür sein kann. Ich lebe Hingabe. 

 

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