Der
Sand ist einverstanden, deine Spuren zu tragen...
Als ich noch ziemlich jung war, ist mir mal aufgefallen,
dass die meisten Menschen ein „vermeidendes“ Leben leben.
Soll heißen: Die meisten Menschen leben so, dass sie bestimmte
als negativ angesehene Sachen vermeiden, zum Beispiel Schmerz.
Sie versuchen also, ihr Glück zu finden, indem sie es vermeiden, zu
fallen, abzustürzen, zu tief in irgendwelche Schmerzabgründe zu
schauen.
Heute finde ich das natürlich auch sehr verständlich,
aber damals war ich ja noch jung und dachte mir insgeheim: „Ziemlich
komisch, was ihr da macht... Zu glauben, dass das „Vermeiden“ von
irgendwas einen glücklich machen könnte.“ Jung und radikal wie
ich war, war ich eher fürs Bejahen und auch fürs radikale Bejahen.
Ich dachte mir: „Eigentlich lebe ich doch nur richtig, wenn ich das
Leben absolut bejahe und wirklich alles von ihm... auch den Schmerz,
den es mir bringt, auch die Katastrophen usw.“
Wenn ich das Leben wirklich liebe, wirklich gerne lebe,
wirklich mit Hingabe lebe, dann liebe ich doch auch seine dunklen
Seiten? Dann will ich die doch auch sehen und spüren und erfahren
und verstehen? Dann will ich doch auch die Regentage kennenlernen und
nicht immer nur in der Sommersonne stehen? Dann habe ich keine Angst,
mich dem Leben wirklich auszusetzen. Mich von ihm auch erschüttern
und verletzen zu lassen.
Also habe ich dann mit 13 voller Überzeugung verkündet,
dass ich ein Leben will, das auch tragisch ist. Meine Familie hat
sich wahrscheinlich gefragt: „Oh Gott, was ist nur schief gelaufen
mit dem Kind???“ Und viele andere Menschen, denen ich seither
begegnet bin, meinten ebenfalls, dass sie meine Einstellung irgendwie
gefährlich fänden, sehr radikal...
Und radikal ist sie natürlich auch wirklich oder
zumindest einigermaßen kompromisslos. Gleichzeitig hungern wir aber
alle danach, genauso geliebt zu werden, kompromisslos, bedingungslos.
Jeder von uns wünscht sich, dass er seine dunkle Regentagseite in
seiner Beziehung nicht verstecken und unterdrücken muss, sondern
dass sie da sein darf, dass sie gesehen wird und vielleicht eben
sogar als etwas Schönes. Manchmal denke ich wirklich: So, wie wir
das Leben lieben, so leben wir auch die Menschen in unserem Leben.
Will ich also die Begegnung mit deinen dunklen Seiten
vermeiden oder setze ich mich dir kompromisslos aus? Bin ich wirklich
bereit, mich von dir erschüttern und durch rütteln und verändern
zu lassen? Kann ich Hingabe leben? Bin ich mutig genug, um mit dem
Erdbeben zu tanzen, in das sich das Leben und jede Beziehung einfach
notwendiger Weise ab und an verwandelt?
Eine lebendige Beziehung kommt meiner Meinung nach auch
wirklich nicht ohne größere Erdbeben aus. Eben weil „Nähe“
einfach immer auch heißt „Nähe zu deinen dunklen Seiten“.
Wir haben alle unsere Abgründe. Und wenn ich einem anderen Menschen
wirklich, wirklich nahe sein will, dann bin ich natürlich auch
seinen Abgründen nah und ebenso meinen eigenen. Je näher mir jemand
ist, desto besser versteht er es, mich in meine eigenen Abgründe zu
schmeißen und in seine zu ziehen.
Und beim „Vermeiden“ dieser Abgründe geht aber
irgendwann früher oder später einfach die Nähe verloren. Genau
wie im Leben: je vermeidender ich lebe, desto weniger lebendig
fühle ich mich irgendwann, desto weniger lebe ich. Alles, was ich
durch Vermeidung anhäufe, ist im Grunde Angst. Durch Hingabe
hingegen... klar, da häufe ich durchaus auch Schmerz an, wenn ich
mich bewusst dazu entscheide, mich erschüttern zu lassen, mich
auszusetzen. Aber ich bleibe nah und ich bleibe lebendig. Und
Schmerz ist ja auch eigentlich nichts Schlechtes.
Zumindest habe ich das für mich inzwischen wirklich
erkannt, dass ich dem Schmerz in meinem Leben so, so viel verdanke.
Der Wunsch nach einem auch tragischen Leben war also gar nicht so
dumm ;-)
Schmerz hat uns so viel zu sagen, weil es eben einfach
auch immer unser Schmerz ist. Schmerz ist wie ein reinigendes
Feuer: Wenn ich ihm zuhöre, ihn anschaue, ihn in meinem Leben
erlaube, dann heilt er mich eigentlich. Er bringt mich voran, er
kurbelt mein persönliches Wachstum an. Er zeigt mir, wo die Ängste
und Blockaden sind, die ich noch überwinden könnte. Wenn ich ihn
aussperre, vermeide, dann bewirke ich nur, dass ich mich immer mehr
vor ihm fürchte... und am Ende holt er mich ja doch auch irgendwann
wieder ein. Und Angst ist im Grunde einfach zerstörerischer als
Schmerz, weil Angst lähmt und einfriert. Schmerz kann brennen, aber
er bewegt auch, transformiert und verändert und heilt eben im
Endeffekt sogar.
Ich kann auf jeden Fall nicht behaupten, dass ich meine
kompromisslos-radikale-Hingabe-Einstellung bereue. Ich habe mich
vielen Erfahrungen ausgesetzt, von denen wahrscheinlich einige auf
den ersten Blick wirklich so aussehen, als könnte man darauf
verzichten. Da waren Gewalterfahrungen dabei, fette Familienkrisen,
ein paar ordentliche Abstürze... Aber im Rückblick habe ich absolut
kein Empfinden von: Das hätte ich mir doch ersparen können. Oder:
Darauf hätte ich wirklich verzichten können. Hätte ich nicht. Ich
will auf gar keinen Fall auf irgendetwas davon verzichten, ich möchte
nichts ungeschehen machen, im Gegenteil: Ich bin dankbar dafür und
im Frieden damit und all diese Erfahrungen haben mich extrem
bereichert, mich tiefer gemacht, mutiger, sie haben vieles in mir
angestoßen und befreit und transformiert und geheilt.
Wenn ich vor den Abgründen wegrenne, dann nehme ich
die Angst vor ihnen aber überallhin mit. Wenn ich mich ihnen
stattdessen hingebe, ihnen aussetze, kann ich im Optimalfall lernen,
in ihnen zu schwimmen, und verliere einfach die Angst vor ihnen.
Und auch wenn das nicht nach dem leichteren Weg aussieht und auch
kein leichter Weg ist, ist es im Endresultat der Weg, der einfach
dahin führt, dass ich glücklicher, sicherer und aber immer noch nah
und lebendig bin in meiner Beziehung zu einem Menschen oder zum Leben
selber.
Den Erdbeben und Erschütterungen kann ich auf Dauer
sowieso nicht entgehen, aber was ich schon lernen kann, ist mit ihnen
zu tanzen. Und um zu tanzen, braucht man aber immer auch Mut. Jemand,
der Angst hat, zu fallen oder zu stolpern, der tanzt entweder nicht
frei oder sogar eher noch gar nicht. Und diese Sicherheit und
tänzerische Leichtigkeit im Umgang mit Abgründen und Erdbeben, die
kann man sich aber mit der Zeit wirklich erarbeiten.
Das heißt jetzt nicht, dass jeder, der noch keine
Gewalterfahrung in seinem Leben gemacht hat, jetzt schnell mal nach
einer suchen soll, damit er genug Abgründe kennen lernt... Irgendwo
finden die Abgründe sowieso zu uns und ihr könnt getrost darauf
vertrauen, dass der Abgrund, der euch gerade verfolgt, einfach auch
der ist, der auf irgendeine Art für euch bestimmt ist. Er ist quasi
das Schwimmbecken, in dem ihr jetzt Tiefseetauchen lernen sollt, oder
das Erdbeben, das euch Tango beibringen will (das Leben ist nämlich
wirklich ein genialer Tanzlehrer).
Und vielleicht ist der Abgrund, der euch gerade
verfolgt, die vielen Konflikte und Streitereien in irgendeiner eurer
Beziehungen oder im Gegenteil das Schweigen oder die Eintönigkeit
darin. Und beides kann schon ein ziemlich tiefer Abgrund sein. Meine
Erdbebentänze sind momentan auch eher noch Stolpertänze, aber von
meinen größeren Stolperern, Ausrutschern und Stürzen weiß ich,
dass das Schlimmste, was mir passieren kann, ist, dass ich in mich
falle. Kein Fall, egal in welchen noch so tiefen und dunklen
Abgrund, hat mich je woanders landen lassen als bei mir selbst.
Und meistens sogar mehr bei mir selbst als davor.
So don't worry, folks :-) And dance!
Der
Sand ist einverstanden, deine Spuren zu tragen...
Heißt für mich also: Ich bin einverstanden, mich von dir
erschüttern, von dir verändern, von dir bewegen, in deine und meine
und unsere Abgründe schmeißen zu lassen. Und mein Vertrauen in
dich, in uns, ins Leben hört nicht auf, wenn du mich mal verletzt.
Ich werde dahin kommen, dass ich den Schmerz, den du mir zugefügt
hast, irgendwann ansehen und verstehen und lieben und dankbar dafür
sein kann. Ich lebe Hingabe.
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